Thomas und Lydia wohnen und arbeiten im Libanon. Sie setzen sich für die drusische Bevölkerung ein. Lydia ist Libanesin und hat verschiedene Kriege und Krisen im Land erlebt. Sie haben das Land nach den Angriffen auf die Hisbollah vorübergehend verlassen. Wie sie die Situation erlebten, erzählten sie Anfang Oktober 2024 in diesem Interview.
»Wie erlebt ihr die Situation?
T: Es schmerzt, dass wir nicht im Libanon sein können. Wir sind früher als geplant für unser Sabbatical ausgereist – wegen der Dramatik der Entwicklung. Als wir noch in Beirut waren, haben wir miterlebt, wenn es knallt. Es waren aber nicht Bomben sondern der Knall, wenn die Jets die Schallmauer durchbrechen. Das klingt wie eine grosse Explosion. Das Haus wird erschüttert, die Fenster wackeln und du weisst im ersten Moment nicht, ob das eine Bombe war. Sollst du nun abwarten oder fliehen? Doch die Bomben sind nähergekommen. Leute mussten ihre Wohnung verlassen, von denen wir dachten, sie seien in sicheren Gebieten. Heute haben wir erfahren, dass eine Bombe das Zuhause unserer Freunde zerstört hat. Wo sollen sie hin? Wir tragen ihren Schmerz mit, soweit das möglich ist, wenn man anderswo ist.
Lydia, du hast bereits den Bürgerkrieg (1975-1990) miterlebt. Du hast erzählt, dass es aber diesmal anders ist. Wie erlebst du das?
L: Der Bürgerkrieg war lokal begrenzt. Man wusste, wo man nicht hinsoll und wo es sicher ist. Diesmal ist es anders. Die Angriffe finden in der Gegend der schiitischen Bevölkerung statt. Dort befinden sich die meisten Hisbollah-Anhänger. Aber der Libanon ist so durchmischt. Die schiitische Gegend grenzt an die christliche. Meine Schwester wohnt in der Nähe eines schiitischen Dorfes. Die Bomben werden nicht angekündigt. Es ist Krieg. Du gehst normalerweise in dieses Dorf einkaufen, deine Kinder gehen mit den dortigen Kindern zur Schule. Ihre Lehrerin wohnt in dem Dorf. Es sind keine gesichtslosen Wesen. Es sind unsere Mitmenschen. Das macht es viel schwieriger. Wären es Unbekannte, wäre es anders.
Thomas, du hast vom Mittragen des Schmerzes gesprochen. Wie machst du das?
T: Wir fragen unsere Bekannten, wie es ihnen geht. Wir merken, dass das wichtig ist, wenn sie uns antworten: «Oh, es tut uns gut zu hören, dass wir nicht vergessen wurden.» Manchmal können wir nichts anderes tun, als für sie zu beten. Wir haben immer wieder erlebt, dass da, wo wir menschlich nichts mehr tun können, Gott Wunder tut und Menschen aus Situationen ohne Hoffnung herausholt. Vielleicht geschehen auch Wunder, weil die Menschen im Libanon offen dafür sind. Sie tun sie nicht als Zufall ab. Wenn etwas Übernatürliches passiert, steckt Gott dahinter.
Wir sind gefordert, als Träger von Gottes Liebe. Die Spannung zwischen der Hisbollah und dem Rest der Bevölkerung ist einfach da. Die Hisbollah und die Freunde der Hisbollah sind Ziele von Vergeltungsschlägen. Die Leute haben Angst, dass, wenn sie Vertriebene aufnehmen, ihr Haus oder ihr Dorf Ziel eines Vergeltungsschlags wird. Da sind Bomben an Orte eingeschlagen, wo man nicht damit gerechnet hat. Wie können wir ganzheitlich für die Menschen da sein? Vertriebene haben keine Matratzen, keine Decken dabei, Esswaren fehlen. Kirchen und christliche Organisationen haben wunderbare Aktionen gestartet, um den dringendsten Nöten zu begegnen. Sie zeigen den Menschen: Ihr seid nicht vergessen.
Auch wenn ihr zurzeit nicht im Libanon wohnt. habt ihr Familie und Freunde dort. Was hilft euch in dieser Krisenzeit?
L: Jeden Morgen, wenn ich die Augen öffne, schaue ich auf meinem Telefon nach, wer sich gemeldet hat. Das hilft mir durch den Tag. Auch wenn es schwierige Neuigkeiten sind, so weiss ich wenigstens, dass sie am Leben sind. In der Schweiz erfahren wir von Freunden viel Empathie. Es tut gut, wenn ich sagen darf, dass die Situation schrecklich ist und sie Verständnis zeigen. Keiner kommt und predigt mir, wie ich fühlen soll und wie gut Gott ist. Diese Haltung hilft mir.
Thomas, du hast gesagt, beten hilft. Aber wie betet man in einer solchen Situation?
T: In einer Situation, wie jetzt, bringe ich mein Herz zu Gott – meinen Ärger, meinen Stress, meinen Schmerz. Manchmal baut sich in mir eine Wut über all das Böse und Zerstörende auf. Ich will sie nicht gegen Menschen richten. Jesus hat das nie getan. Aber die Wut kommt trotzdem immer wieder. Dann bete ich: «Es ist ja dein Problem. Du bist der Autor des Kosmos, der Schöpfer dieser Welt. Du hast uns Menschen mit einem guten Plan hierher gestellt. Du bist der Erlöser und du bist jemand, der das löst.»
L: Ich weiss nicht mehr, wie ich beten soll. Ich habe keine Worte, keine Ideen, keinen Plan mehr. Mein ganzes Sein ist ein Schrei zu Gott. Zwei Wochen lang habe ich gebetet: «Gott, erbarme dich! Mein Herz ist zerbrochen, es ist zerstückelt.» Und dann schimpfte ich mit Gott: «Siehst du das alles? Wie erlaubst du, dass so viel Böses geschieht? Ich kann nicht Menschen sagen, dass du sie liebst, wenn sie alles verloren haben.» Gerade heute hat mir eine Kollegin erzählt, dass ihr Haus abgebrannt ist. Was soll ich ihr sagen? Gott liebt dich? Natürlich, Gott liebt sie. Aber ihr Haus ist abgebrannt und sie besitzt nur noch einen Koffer. Manchmal antwortet mir dann Gott und sagt: «Ich liebe sie mehr als du. Ich habe sie gemacht. Ich bin für sie gestorben.» Und ich antworte: «Schau du, wie du ihnen deine Liebe vermitteln willst.»
Ihr habt erlebt, wie sich die Situation im Libanon stetig verschlechtert hat. Das ist der neuste Ausbruch. Hat sich euer Glaube dadurch verändert?
L: Vor 10 Jahren war ich der Meinung, dass es gut ist, wenn man terroristische Gruppierungen auslöscht. Doch in dieser Gruppe, die wir als Terrorgruppe bezeichnen, gibt es Leute, die wir persönlich kennen. Und wir kennen Leute im Freundeskreis dieser Bewegung – Lehrer unserer Kinder oder ihre Kollegen aus der Schule oder der Uni. Zu manchen haben wir ein gutes Verhältnis. Sie sind kein gesichtsloser Apparat. Es sind Menschen mit Familie. Was sollen wir denen tun, die uns hassen, uns Böses tun, uns verfluchen? Jesus hat die Antwort in Matthäus 5 gegeben: Liebt eure Feinde. Es ist, als ob mir das erst jetzt bewusst wird. Ich glaube, mein Herz wächst hin zu Jesus Christus. Ich kann mich nicht mehr freuen – auch wenn die schlimmsten Terroristen sterben: Ich kann mich nicht freuen.
T: Mir geht es ähnlich. Ich bin in Dimensionen des Glaubens gerutscht, die ich früher nicht kannte. Durch die Umstände, die wir erleben. In der Schweiz, habe ich gedacht, die Feinde sind die, die deinen Glauben belächeln oder dir den Rücken zukehren. Und jetzt bist du an einem anderen Ort. Du hast Feinde, weil sie dein Leben in Gefahr bringen und deine Gesellschaft kaputt machen. In Psalm 23 sagt David am Schluss: «und er deckt mir den Tisch im Angesicht meiner Feinde». Lange Zeit habe ich gedacht, dass Gott mir den Tisch deckt und die anderen zuschauen können und nichts davon haben. Da hat mir der Heilige Geist aufgezeigt, was im Orient «im Angesicht meiner Feinde» bedeutet. Nämlich, dass du deinen gedeckten Tisch mit ihnen teilst. Gott deckt nicht den Tisch vor mir, um die anderen zu verspotten. Sondern damit ich der bin, der grosszügig sein kann, weil der Vater im Himmel grosszügig ist. Ich brauche dazu oft Überwindung.
L: Ich sehe, was Jesus macht. Das ist das Schöne. Wir können nichts aus uns bewirken. Es ist seine Arbeit und er schickt uns seinen Heiligen Geist, um uns darauf aufmerksam zu machen und um unsere Herzen mit seiner Liebe zu füllen. Ein kleines Zeichen von Liebe macht den Unterschied.
Interview vom 9.10.24 von Sara Rhyner
Nachtrag vom 10.3.25
Lydia und Thomas sind am 1. Januar 2025 nach ihrem Sabbatical in den Libanon zurückgekehrt. Sie durften ihre Freunde und die Familie wieder in die Arme schliessen. «Uns geht es gut», erzählt Thomas, «wir durften während dem Sabbatical Seelsorge empfangen und können uns nun um andere kümmern.»
Die Situation im Libanon beschreiben Lydia und Thomas wie folgt: «Das Land atmet auf.» Sobald die Waffenruhe verkündet wurde, kehrten rund 90 % der Geflüchteten nach Hause zurück. Wer kein Haus mehr hatte, campierte auf dem Grundstück. Die Menschen haben grosse Hoffnung in die neugewählte Regierung.
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